Erster Brief an Samira

Auch für Insider ist es mittlerweile schwierig, die Lage in Syrien zu verstehen. In den Briefen an seine Frau Samira versucht Yassin, die politische Lage im Rückblick zu deuten. Zugleich übermitteln seine Zeilen ein bis in die Gegenwart reichendes Gefühl der Nähe zu dieser geliebten Person. Dies ist der erste von elf Briefen des Autors an seine verschwundene Frau Samira.

 

​Liebe Sammour,

in deiner langen, undurchdringlichen Gefangenschaft wirst du dich vielleicht fragen: Warum konnte ich dir in all der Zeit nicht helfen? Bestimmt hast du angenommen, dass ich etwas für Dich tun kann, doch nun sind bereits drei Jahre und sieben Monate vergangen und noch immer bist Du in Gefangenschaft. Wir haben keine Nachrichten voneinander, deshalb werde ich versuchen, dir in Briefen zu berichten, was inzwischen geschehen ist. Dein Mann ist schließlich immer noch der Autor, der nur das Wort als Waffe hat. Du hast geglaubt, dass wir – Razan, du und ich -, einflussreiche Bekannte haben, die uns helfen werden. Zu gegebener Zeit werde ich auch dazu Stellung beziehen.

Aber lass mich dir zuerst erzählen, was in deiner Abwesenheit passiert ist und wie es dazu kam, dass meine Möglichkeiten, etwas für dich – und für mich – zu tun, geringer sind, als ich erwartet habe.

Ich stelle mir vor, liebe Sammour, dass du jetzt aus der Welt der Verschwundenen heraustrittst und wissen möchtest, was in deiner Abwesenheit geschehen ist. Ich schreibe dir in der Absicht, dass diese Briefe dir dabei helfen werden, zu verstehen. Ich richte meine Worte an dich, dir schreibe ich, aber ich glaube, dass auch Razan meine Briefe lesen wird, genauso wie Wael und Nazem. Oder wie Faiq und Dschihad, die wie du verschwunden sind, sich jedoch in Haft beim Assadstaat befinden. Oder wie Firas und Ismael, die beide in den Händen des Islamischen Staats sind.

Wie du weißt, Sammour, kam ich Anfang April 2013 in die Ghouta. Einige Tage später geschahen zwei Dinge: Erstens entwickelte sich aus einem abgespaltenen Teil der Nusra-Front der Islamische Staat. Dschihadisten aus allen arabischen Ländern fühlten sich angezogen. Einen von ihnen traf ich damals in der westlichen Ghouta, einen Saudi, dessen Namen ich vergessen habe. Zweitens trat in Qusair die libanesische Hisbollah öffentlich an der Seite des Regimes in den Krieg ein. Dieser Monat markiert somit eine neue Phase der Revolution. Ein sunnitisch-schiitischer Konflikt legte sich wie eine zweite Schicht über die syrische Revolution. Wir – du, Razan und ich – hatten Damaskus also gerade zu dem Zeitpunkt verlassen, als die Auseinandersetzungen eine neue Stufe erreicht hatten. Aus der syrischen Revolution war inzwischen ein internationaler Konflikt geworden.

Diesen historischen Wendepunkt haben wir ebensowenig wie viele andere wahrgenommen. Historische Ereignisse werden oft erst im Nachhinein aus dem Abstand heraus verstanden. Erst als ich im Sommer 2013 in Rakka war, habe ich langsam begriffen, dass der syrische Konflikt in der zweiten Hälfte des Jahres 2012 den nationalen Rahmen gesprengt hatte. Niemand war darauf vorbereitet, dementsprechend versuchte auch niemand, auf diese Veränderung zu reagieren.

Zu dem Zeitpunkt, als in Ägypten Abdel Fatah al-Sisi gegen den zum Präsidenten gewählten Muslimbruder Muhammad Mursi putschte, lebten wir zu dritt in der Ghouta. Al-Sisi nutzte damals die Unzufriedenheit des ägyptischen Volkes für seinen Aufstieg. Nach dem Putsch entwickelte sich Ägypten jedoch zu einer Bastion der Konterrevolution und stützte das Assad-Regime.

Am 21. August 2013, dem Zeitpunkt des Chemiewaffenangriffs, warst du mit Razan in Douma, ich befand mich in Rakka. Razan verfasste zwei Berichte für das Violations Documentation Center (VDC), und du schriebst auf deiner Facebook-Seite darüber. Wael und Nazem befanden sich zu diesem Zeitpunkt noch in Damaskus. Du und Razan, ihr beide wart zwei einzigartige Zeuginnen: Frauen, Atheistinnen, nicht aus der Region kommend und beide mit einer langen Oppositionsgeschichte. Ihr habt in klaren und deutlichen Worten über dieses Verbrechen, die Umstände, die Täter und die Opfer geschrieben.

Auf Bitte einer ägyptischen Menschenrechtsorganisation verfasste ich damals einen langen Artikel über die Entwicklung der syrischen Revolution und ihren damals zweieinhalbjährigen Verlauf (Liebe Samira, du findest den Artikel in meinem Buch: Die unmögliche Revolution, das im Frühjahr 2017 erschienen ist. Ich habe es dir und Syrien gewidmet.). Eine Zeitlang hatte es den Anschein, dass das Regime für seine Verbrechen bestraft werden würde. In meinem Artikel habe ich diese Möglichkeit als eine von mehreren Optionen erwogen.

Doch noch während des Schreibens wurde eine Bestrafung des Regimes immer unwahrscheinlicher. Sogar der damalige US-Außenminister John Kerry erklärte in der ersten Septemberwoche in London, ein Angriff der USA werde, sofern er überhaupt stattfinde, äußerst harmlos ausfallen! Das war wirklich seltsam. Eine Gruppe, die sich selbst zum Wächter des internationalen Rechts ernannt hat, sagt einem Verbrecher, der genau dieses Recht missachtet, dass sie ihn vielleicht bestraft. Im selben Moment beruhigt diese Wächtergruppe den Verbrecher aber und erklärt, dass die Strafe nicht zu hart ausfallen werde und er weitere Verbrechen begehen könne! Eine knappe Woche später einigte man sich mit den Russen auf den Deal, dass das syrische Regime seine Chemiewaffen abgeben solle, es im Gegenzug dafür aber an der Macht bleiben könne und ihm kein Schaden zugefügt werde

Das Regime, das die eigene Sicherheit und die fortdauernde Kapazität zu töten besonders schätzt, gab also einen wichtigen Teil seines Chemiewaffen-Depots preis. Für den Schritt attestieren die USA dem Regime, es sei sehr kooperativ.

Die internationale Gemeinschaft sah es also nicht als ein Problem an, dass durch einen Chemiewaffenangriff unschuldige Menschen getötet worden waren. Ihr Problem war, dass das Regime das Gesetz des Stärkeren gebrochen hatte. Nach Abschluss dieses Deals zog Assads Regime den – nachvollziehbaren – Schluss, dass es seine Bürger mit allen Waffen töten darf, außer mit Chemiewaffen. Mehr noch, es kann die eigene Bevölkerung eigentlich sogar mit Chemiewaffen töten, sofern die Angelegenheit kein großes Aufsehen verursacht. Schließlich sollten die Amerikaner nicht in die Bredouille gebracht werden. Weil das Assad-Regime die lasche Haltung der amerikanischen Regierung kannte, wurden große Mengen des syrischen Chemiewaffenbestands nicht abgegeben.

Stell dir vor, Sammour, nach dem Chemiewaffenhandel, der übrigens laut Aussage eines israelischen Ministers von Israel inspiriert worden war, verübte das Regime tatsächlich weitere Angriffe mit Chlorgas und Sarin. Letzten April wurde die Ortschaft Khan Scheikhun mit Sarin vom Regime bombardiert, einhundert Menschen fanden den Tod. Die Trump-Administration hat reagiert (Donald Trump wurde nach Obama zum US-Präsidenten gewählt, ein wirkliches Tier, dessen beste Tat bis heute war, Assad als animal zu bezeichnen). Sie bombardierte den Flughafen von Schairat, von wo das Flugzeug abgehoben hatte, um nach Khan Scheikhun zu fliegen.

Vorher aber wurden die Russen über diesen Angriff informiert, die natürlich unverzüglich das Regime benachrichtigten (Sammour, widert dich das an, meine Liebe? Leider befinden wir uns noch am Anfang der Geschichte, und es wäre ratsam, dieses Gefühl zu überwinden), weshalb die Verluste des Regimes durch den amerikanischen Angriff nur materieller Natur waren.

 

Samira Khalil und Yassin al-Haj Saleh

Briefe an Samira

Am 9. Dezember 2013 wurde Samira Khalil in Douma, einem Vorort von Damaskus, entführt. Sie ist bis heute verschwunden. Ihr Ehemann Yassin al-Haj Saleh ist syrischer Schriftsteller und Dissident und verbrachte 16 Jahre in einem syrischen Gefängnis. In dieser Reihe von Briefen schreibt er seiner Frau, wie sich die Lage in Syrien seit ihrem Verschwinden entwickelt hat. mehr...

Weißt du, Sammour, dass das Regime nach dem Chemie-Deal die Angriffe mit Fassbomben noch ausgeweitet hat? Ich habe keine Informationen darüber, ob die Ost-Ghouta nach dem Chemiewaffenangriff auch noch mit Fassbomben bombardiert wurde, aber ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie im September 2013 an Fallschirmen hängende Fassbomben aus Helikoptern über Rakka schwebten. Ich weiß nicht, warum, und ich weiß nicht, ob alle Fassbomben so ausgestattet sind, aber das Beängstigende daran war, dass es durch die Fallschirme schwerer war, abzuschätzen, wo die Bomben einschlagen würden und wie man sich vor ihnen schützen könnte.

Sammour, vor deinem Verschwinden hast du wahrscheinlich einmal von der Gruppe der Freunde des syrischen Volkes gehört. Dies sind Staaten, die Syrien außerhalb der Vereinten Nationen, deren Arbeit von Russen und Chinesen durch ein Veto im Sicherheitsrat blockiert wurde, hätten helfen sollen. Doch schon lange hat niemand mehr etwas von dieser Gruppe gehört. Die Amerikaner, die sich dem von den Israelis inspirierten Chemiewaffendeal mehr verpflichtet fühlten als den Syrern oder den Prinzipien der Gerechtigkeit, setzten ihrer Arbeit ein Ende.

Noch vor Ende September 2013 geschah etwas anderes Bedeutsames: Die Liwa al-Islam, die Gruppierung, die du aus Douma kennst, erhob sich selbst in den Stand einer Armee und nannte sich von nun an Armee des Islam. Sie steht in enger Verbindung zu Saudi-Arabien, von wo sie ihre finanzielle Unterstützung erhält. Es ist das gleiche Saudi-Arabien, das Ende 2012 auf Befehl der Amerikaner in Syrien intervenierte, um zu verhindern, dass oppositionelle Kämpfer gerade dann nach Damaskus vordringen, als die dortige Dynamik des Befreiungskampfes einen Sturz des Regimes möglich erscheinen ließ.

Die Armee des Islam war allerdings höchstens ein weiterer Faktor im sunnitisch-schiitischen Konflikt, nicht aber Teil der syrischen Revolution. Schlimmstenfalls war sie eine engstirnige Lokalmacht, die glaubte, in einer Republik oder einem unabhängigen Emirat frei agieren zu können, die aber gleichzeitig abhängig war von einer Regionalmacht, der es selbst an Unabhängigkeit mangelte: von Saudi-Arabien.

Wir waren damals zusammen mit ein paar Freunden dabei, deine Abreise aus der Ghouta zu organisieren. Einer von ihnen war Mahmoud Mudalal (Abu Murschid), der später getötet wurde. Dass Abu Murschid tot ist, weißt du nicht? Leider starb er im April 2015 bei einem Doppelangriff auf Harasta. Bei solchen Angriffen bombardiert das Regime einen Ort und schlägt, wenn die Helfer herbeieilen, zum zweiten Mal zu. Er ist seinem getöteten Sohn gefolgt.

Dass auch Abu Said tot ist, weißt du auch nicht? Kannst du dich noch an ihn erinnern? Wir haben ein paar Tage nach deiner Ankunft in der Ghouta im Mai 2013 einen Abend bei ihm Zuhause in Maleiha verbracht. Es war Abu Said, der mir meinen ersten gefälschten Ausweis besorgt hatte, erinnerst du dich noch? Du weißt auch nicht, dass Abu al-Izz gestorben ist? Vielleicht erinnerst du dich nicht an ihn. Er war auf dem Weg nach Jordanien und geriet vermutlich zusammen mit anderen in einen Hinterhalt.

Die Besten sind gestorben, Sammour!

Ich wollte dir eigentlich nur schreiben, was nach deinem Verschwinden passiert ist, aber vielleicht musste ich über diese Vorkommnisse als Vorbereitung berichten. Ich werde dir einen weiteren Brief schreiben. Jetzt bitte ich dich nur, auf deine Gesundheit zu achten.

Ich küsse dich, mein Herz.

Yassin

Aus dem Arabischen von Larissa Bender. Dieser Text erschien zuerst im Faust-Kultur Magazin.